Verein14.11.2023

Zuhause tut er sich schwer

Ein exklusiver Beitrag von Kai Thomas „Kollege“ Geiger (kessel.tv) für die Stuttgarter Kickers 

 Keine Ahnung, ob das für Mustafa Ünal in seinem 100. Pflichtspiel – der denkwürdigen Partie gegen den FC Homburg - auch gegolten hat – aber ich finde: auf ein November- Fußballspiel muss man sich anders vorbereiten. Es nieselt, es hat 5 Grad und auf der Waldau ist es so zappenduster, dass in der 60. Minute die Flutlichtfunzeln angeknipst werden. Solche Rahmenbedingungen erfordern auch in der Vorbereitung ganz andere taktische Überlegungen: wie schaffe ich mit möglichst wenig auftragenden Textilien einen Zwiebellook, der mich zwar warmhält, mich andererseits aber auch nicht aussehen lässt, als hätte ich das Waldi-Kostüm an? Wann gehe ich strategisch am besten von zuhause los, damit ich mir nicht die kalten Beine in den kalten Bauch stehe – aber halt auch nix verpasse? 

Und gehe ich überhaupt bei Temperaturen kurz über dem Gefrierpunkt in ein windiges Fußballstadion auf der Waldau? Aber ganz ganz sicher. Schließlich geht es um die Stuttgarter Kickers und um die Herbstmeisterschaft. 

Weil ich keine Karte habe, die von Dauer ist, hole ich mir kurz vor Spielbeginn ein Tagesticket im Online-Shop. Und muss an der Stelle mal den blauen Hut vor der IT-Logistik im Backend ziehen. Ich glaube, dass das in dieser Liga und auch in dieser Stadt nicht jeder Verein so gut hinbekommt, dass das digitale Ticketing reibungslos klappt. Paypal, Download, Wallet. Das tut alles und funktioniert alles – und es gibt einem die große Freiheit, sich auch noch um 13.30 Uhr gegen das Mittags-Bubu auf dem Sofa und für einen Regionalligakick zu entscheiden. 

So ganz geht meine Daheim-Loslauf-Taktik allerdings nicht auf – Viertausendundeinpaarzerquetschte andere Menschen hatten die gleiche Idee und ein ähnliches Timing. Wir stehen Schlange. Dort wird’s aber zum Glück kurzweilig und herzerwärmend. Weil ein Kind beschließt, sich an meine Hand zu hängen statt an die seines Papas. Das war sozusagen ein sozialer Fehlpass. Und ich habe für ein paar Meter mein eigenes Einkaufkind. Bis das Kind seinen Fehler bemerkt und kreischt. Falscher Papa. Die Erwachsenen lachen, das Kind hat hoffentlich keinen Schreck fürs Leben. Sein Vater kann ihm später mal, wenn es größer ist, erklären: immerhin liefst du an der Hand eines der großen kessel.tv Dichter auf eines der geilsten Fußballstadien Deutschlands zu. 

Im Spiel selbst war wieder alles drin, was Fußball so super macht: Grätschende Kapitäne. Traumpässe über das ganze Feld, die mit einer Nonchalance aus dem Fußgelenk angenommen werden. Einwechslungen, die das Spiel bereichern. Fans, die gewonnene Bälle euphorisch beklatschen. Aber auch Wundertüten als Gegner. Und Szenen, die diesen unnötig stark machen. Und jetzt auch noch ein Waldau Wembley Tor. Ich weiß ja nicht, welche Linie der Schiri da rund um das Spiel aus nächster Nähe gesehen hat. Die Torlinie jedenfalls nicht. 

Insgesamt sind die Kickers ihrem blauen Faden, der sich da gerade durch die Saison zieht, aber zum Glück treu geblieben: rennen, kämpfen, nicht aufgeben und sich von Rückschlägen eher hoch- als runterziehen zu lassen. Bestes Beispiel wieder mal Dicklhuber. Der war in den letzten paar Spielen mit Haarband aufgelaufen und ohne hätte ich ihn dann fast nicht erkannt. Bis er die Dinger zum hochverdienten 1:1 und 2:2 dorthin zimmert, wo sie hingehören. Und ich denke mir: Ah der Typ ohne mediterranen Kopfschmuck – das ist er ja, unser Kapitän. Ohnehin: ich bin ein großer Fan von den meisten, die da auf dem Platz stehen: Team Braig, Team Blank, Team Mauersberger, Team Tekerci, Team Dickl sowieso. Und ich muss auch mal die Verantwortlichen rund um Marc Stein schulterklopfen: die Jungs, die Ihr da in der Sommerpause geshoppt habt – ich weiß nicht, wo Ihr die gefunden habt, aber auf jeden Fall habt Ihr Mentalität bestellt und bekommen. Und zwar nicht bei Wish. Die Neuzugänge machen da weiter, wo die Aufsteiger aufgehört haben und werfen sich ebenfalls voll rein. Das muss man in der Kaderplanung und im Training auch alles erstmal hinbekommen. 

Ich habe auch das Gefühl – und mit meinem mangelnden Fußball-Sachverstand ist es nicht mehr als das; nur ein Gefühl – dass da die richtigen Leute an den richtigen Stellen sitzen. Leute mit einem blauen Herzen und einer blauen Agenda. Und mit dem gemeinsamen Ziel, diese Klasse zu halten oder hinter sich zu lassen. Nichts muss, alles kann – und vieles passiert schon. 

Dass die Fans dazu immer noch singen „Oberliga…scheissegal…tut so weh…“ ist wohl eine Mischung aus Traumabewältigung und Selbstironie – oder halt der Tatsache geschuldet, dass sich „Regionalliga“ nicht ganz so geil singt und nicht ganz so schlimm anfühlt. Jetzt wird der ein oder andere Alt-Degerlocher vielleicht sagen, die Herbstmeisterschaft ist die erweiterte Goldene Ananas. Weil sie einfach nichts Zählbares bringt. Außer der Gewissheit, dass man als Aufsteiger nach 17 Spieltagen nicht der schlechteste ist. Sondern VERDAMMT NOCHMAL DER BESTE. Das haben sich nur ganz wenige zu träumen oder zu wünschen gewagt. Und was mir Hoffnung macht: eins kann Musti ja wie kein anderer – Musti kann Momentum. Erzeugen, mitnehmen und surfen. Insofern kann die Saison ja überall enden. Selbst in einer anderen Liga. 

In der zweiten Halbzeit redet der Zuschauer neben mir leider 45 handgestoppte Minuten. Ohne Punkt, ohne Komma und ohne einen Bezug zum vor ihm parallel stattfindenden Spitzenspiel. Über Mieteinnahmen, über den Nahost-Konflikt, über die Ampel-Koalition. Nur eben nicht über Regionalliga-Fußball. Ich bin froh, dass ich nicht der Typ rechts von ihm bin. Leider bin ich der Typ links von ihm. Mit dem Abpfiff kommt die Selbsterkenntnis: „Ich rede schon viel, gell?“ Das kann man wohl sagen, wenn man denn mal zu Wort käme. „Aber ich hab‘ auch mit allem recht.“ 

Mit etwas mehr Fußball-Bezug meint jemand in einem anderen hinrundenzusammenfassenden Kommentar: „Zuhause tun sie sich schon schwer.“ Ein Satz, den der ein oder andere von uns aus seinem Privatleben kennt. Aus Situationen, in denen es darum geht, an einem Samstag- oder Sonntagnachmittag, um kurz vor 14.00 Uhr Dinge zu tun, wie Staub zu saugen, das Dach zu reparieren oder die Schwiegereltern zu empfangen. Dann fällt er – dieser berüchtigte Satz: „Zuhause tun wir uns schon schwer“ – und wir müssen los. Zu den 5 Grad. In den Nieselregen. Zu den Kickers. Auf die Waldau. Auf die Blaue!

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